Was steckt hinter dem grossen Stellenabbau bei Novartis?
Der jüngste Entscheid des Schweizer Pharmemultis, sieben Prozent seiner Belegschaft zu entlassen, ist mehr als nur eine Massnahme zur Kostensenkung. Es ist ein Wendepunkt für Novartis, das auf der Suche nach gewinnbringenden Innovationen ist.
Einen Stellenabbau anzukündigen, ist nie einfach. Vor allem nicht in dem Ausmass, wie es Novartis letzte Woche getan hat: In der Schweiz baut der Pharmariese 10% seiner Belegschaft ab. Das bedeutet, dass hierzulande 1400 Stellen wegfallen werden.
Weltweit sollen in den nächsten drei Jahren 8000 von rund 108’000 Stellen gestrichen werden. Dies geschieht vier Jahre, nachdem das Unternehmen in der Schweiz bereits mehr als 2000 Stellen abgebaut hat.
Das schmerzt umso mehr, als das Unternehmen seit mehr als 150 Jahren am Rheinknie ansässig ist. Seit langem gibt es auch Spekulationen, dass das Unternehmen die Schweiz als Hauptsitz aufgeben könnte.
Berichten zufolge sollen einige Arbeitsplätze in der Verwaltung und im IT-Bereich an kostengünstigere Standorte wie Indien und die Tschechische Republik ausgelagert werdenExterner Link. Dennoch hat Konzernchef Vas Narasimhan bei verschiedenen Gelegenheiten versichert, dass das Unternehmen am Standort Schweiz festhalten wolle.
«Wir haben eine lange Geschichte in der Schweiz. Wir sind definitiv ein Schweizer Unternehmen, und wir gehen davon aus, dass dies noch mindestens ein weiteres Jahrhundert so bleiben wird», sagte Narasimhan im Mai gegenüber der französischsprachigen Zeitung Le TempsExterner Link.
Mehr
Wie die Schweiz zur Hochburg der globalen Pharmaindustrie wurde
Externer LinkDer Entscheid, so viele Arbeitsplätze auf einen Schlag zu streichen, scheint weniger mit den Gefühlen des Unternehmens gegenüber seinem Heimatstandort zu tun zu haben als vielmehr mit dem sich ändernden Wind in der Pharmaindustrie.
Um ein grosser Akteur in der Branche zu sein, geht es nicht mehr darum, eine grosse Belegschaft zu haben. Es geht darum, zielgerichtete Medikamente zu haben, also solche, die für die Patientinnen und Patienten zu deutlichen Verbesserungen und für die Unternehmen zu grossen Gewinnen führen können.
Der kometenhafte Aufstieg kleiner Biotech-Unternehmen wie den Covid-Impfstoffherstellern Moderna und Biontech, der auf grossen technologischen Durchbrüchen beruht, hat diesen Trend nur noch verstärkt.
Zielgerichtete Medikamente für weniger Patientinnen und Patienten
Novartis hat die beste Bilanz in der Branche, wenn es um die Zulassung von Arzneimitteln durch die Food and Drug Administration in den USA geht. Innerhalb der letzten fünf Jahre wurden 14 Medikamente zugelassen, mehr als von jedem anderen Pharmaunternehmen.
Aber mit diesen neuen Medikamenten wird nur ein Bruchteil des Umsatzes erzielt. Laut einer Analyse des Beratungsunternehmens Idea PharmaExterner Link stammen nur 8% des Umsatzes von Novartis im Jahr 2021 aus Medikamenten, die in den letzten fünf Jahren zugelassen wurden.
Der Schweizer Pharmakonzern Roche hatte im gleichen Zeitraum nur acht Zulassungen. Diese machten jedoch fast 25% seines Umsatzes im vergangenen Jahr aus. Das japanische Unternehmen Takeda erzielte sogar mehr als 70% seines Umsatzes mit lediglich vier Medikamenten, die alle in den letzten fünf Jahren zugelassen wurden.
«Novartis pflegt eine ‹Follow-the-science›-Mentalität, aber dann will der Markt etwas anderes», sagt Mike Rea, Geschäftsleiter von Idea Pharma, das in der Vergangenheit mit Novartis zusammengearbeitet hat und derzeit Roche zu seinen Kunden zählt. «Die Umstrukturierung bei Novartis ist ein Eingeständnis, dass man sich für Produkte entschieden hat, die keine Einnahmen generieren.»
Dies geschieht in einer Zeit, in der sich viele Unternehmen von der Allgemeinmedizin wegbewegen und Arzneien, die für alle passen. Sie streben hin zur personalisierten Medizin und zu gezielten Behandlungen. Dazu gehören Gen- und Zelltherapien, die sich an weniger Menschen mit spezielleren Beschwerden mit ungedecktem Bedarf richten können.
Zell- und Gentherapien machen nur 1% der Markteinführungen aus, aber im Februar 2020 waren sie für 12% der klinischen Pipeline der Branche verantwortlich. Zu diesem Schluss kommt eine von der Beratungsfirma McKinsey veröffentlichte AnalyseExterner Link. Bis 2025 erwartet die zuständige US-BundesbehördeExterner Link die Zulassung von zehn bis zwanzig Zell- und Gentherapieprodukten pro Jahr.
Für Novartis ist die Umstellung auf Spezialitäten dramatischer als für viele andere Unternehmen, weil das Unternehmen über ein stark diversifiziertes Portfolio verfügt.
«Sie haben viele Kandidaten entwickelt, aber nicht konsequent genug, um ein Spezialgebiet zu entwickeln. Sie haben ihre Strategien häufig gewechselt und sich nicht auf bestimmte Bereiche konzentriert», sagt Rea.
Seit Narasimhan 2018 den Posten des Konzernchefs übernommen hat, trennte sich Novartis von einigen Geschäftsbereichen. Das Unternehmen verkaufte seine Consumer-Healthcare-Einheit an GSK («GlaxoSmithKline») und gliederte 2019 seine Sparte für Augenheilkunde, Alcon, in eine separate Einheit aus.
Zu Beginn dieses Jahres leitete Novartis eine Überprüfung ihrer Abteilung für Generika- und Biosimilar-Produkte (qualitativ gleichwertige Nachfolgeprodukte von Biologika) ein: Sandoz soll verkauft oder ausgegliedert werden, wie beispielsweise Bloomberg berichtetExterner Link.
Die jüngste Umstrukturierung wurde im April angekündigt und sieht die Zusammenlegung der Onkologie- und der Pharmasparte des Unternehmens zu einer Einheit für innovative und hochprofitable Arzneimittel vor.
Das ist eine bedeutende Umstrukturierung und spiegelt die Veränderungen bei Roche und anderen Wettbewerbern wider. Drei Führungskräfte verloren im Zug der Novatris-Umstrukturierung ihren Arbeitsplatz.
«Das Problem der meisten grossen Unternehmen ist, dass sie gross sind. Die Pandemie hat die Unternehmen dazu veranlasst, sich die Schichten in den Unternehmen anzuschauen und sich zu fragen, was ihre Mitarbeitenden tun und ob sie dabei erfolgreich sind», so Rea.
Mehr
Kleine Unternehmen, grosse Innovationen: Schweizer Startups
Novartis bezeichnet sich nun als «fokussiertes Arzneimittelunternehmen», das sich auf ausgewählte Therapiegebiete und Technologieplattformen wie die Gentherapie konzentriert. Bei dieser Therapie werden Krankheiten behandelt, indem die zugrunde liegende genetische Ursache angegangen wird.
Auf Arzneimittel setzen wie auf Rennpferde
Das Unternehmen geht davon aus, dass die Umstrukturierung bis 2024 Einsparungen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar bringen wird. Nach dem Verkauf seines Anteils von 33% an Roche im letzten Jahr ist das Unternehmen jedoch nicht knapp bei Kasse.
Die Frage ist nur, wofür es das Geld ausgeben will, wenn nicht für eine Aufstockung der Belegschaft. Ein Teil der Antwort liegt in seinem Herangehen an Forschung und Entwicklung (F&E).
Obwohl die Forschung einer der wenigen Bereiche ist, die von den jüngsten Stellenstreichungen verschont bleiben, scheint Novartis verstärkt ausserhalb des Unternehmens nach Innovationsquellen zu suchen.
Im April stellte das Unternehmen den langjährigen Wall-Street-Pharmaanalysten Ronny Gal für eine neu geschaffene Position als «Chief Strategy and Growth Officer» ein. Seine Aufgabe ist es, «die Unternehmensstrategie von Novartis, die Optimierung des F&E-Portfolios und die Geschäftsentwicklung zu leiten».
«Ich denke, dass es für das Unternehmen von Vorteil wäre, eine unabhängige Meinung darüber zu haben, ob die Vermögenswerte, die wir intern oder extern vorantreiben (…), wirklich das Multimilliarden-Dollar-Potenzial generieren können, nach dem wir suchen. Und dass wir diese Stimme im Raum haben, so dass wir ‹Nein› zu den Projekten sagen können, die es nicht schaffen werden, und die Ressourcen zur Verfügung haben, um wirklich in jene zu investieren, von denen wir glauben, dass sie es schaffen», sagte Narasimhan zum Zeitpunkt der AnkündigungExterner Link.
Dies spiegelt die stärkere Verbindung zwischen den Bereichen Forschung und Entwicklung und der Geschäftsentwicklung wider, da die Unternehmen zunehmend auf akademische Spinoffs, Startups und kleinere Biotech-Unternehmen ausserhalb ihrer eigenen Labors als Quelle für Innovationen zurückgreifen. «Sie haben jemanden zum ‹Produktpicker› ernannt, der Medikamente wie Rennpferde auswählen soll», sagt Rea von Idea Pharma.
Spezialmedizin verkaufen
Dieser Strategiewechsel erfordert auch eine andere Verkaufsorganisation. Novartis hatte in der Vergangenheit höhere operative Kosten (Verkauf, Verwaltung und Kommunikation) als viele Konkurrenten. Laut dem Tages-AnzeigerExterner Link machen diese Kosten bei Novartis 30% des Umsatzes aus, während sie bei Roche lediglich rund 20% betragen.
In jenen Bereichen sollen Stellen abgebaut werden, um eine «schlankere und einfachere» Organisation zu schaffen, schreibt Novartis in einer E-Mail an swissinfo.ch. Damit folgt der Pharmakonzern anderen Unternehmen wie Pfizer, das im Januar ankündigteExterner Link, sein Verkaufspersonal zu verkleinern, da es sich zu einem «fokussierteren und innovativeren Biopharma-Unternehmen» entwickle und Fachleute im Gesundheitswesen im digitalen Zeitalter weniger persönliche Kontakte mit Arzneimittelherstellern erwarten würden.
Mehr
Wie kann ein Medikament 2,1 Mio. Franken kosten?
Auch die Aufgaben und Fähigkeiten der Vertriebsmitarbeitenden ändern sich, weil sich die Menschen gegen die hohen Preise für viele Gen- und Zelltherapien wehren.
Novartis erlebte genau dies, als das Unternehmen 2019 Zolgensma auf den Markt brachte – eine Gentherapie zur Behandlung von spinaler Muskelatrophie, die mit 2,1 Millionen US-Dollar für eine einzige Injektion als die teuerste Behandlung aller Zeiten zu Buche schlägt. In einigen Ländern dauerte es Monate oder Jahre und erforderte viel juristisches und finanzielles Fachwissen, um sich auf neue Erstattungs- und Zahlungsmodelle zu einigen.
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch